Daniel Kehlmann
(2012)
Daniel Kehlmann
wurde 1975 in München geboren und lebt in Wien. Für seine Romane und Erzählungen, die in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Candide-Preis 2005. Sein Roman «Ich und Kaminski» wurde international zu einem großen Erfolg.
Beerholms Vorstellung. Roman. 1997 Unter der Sonne. Erzählungen. 1998 Mahlers Zeit. Roman. 1999 Der fernste Ort. Novelle. 2001 Ich und Kaminski. Roman. 2003
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machen sich zwei junge Deutsche an die Vermessung der Welt. Der eine, Alexander von Humboldt, kämpft sich durch Urwald und Steppe, befährt den Orinoko, erprobt Gifte im Selbstversuch, zählt die Kopfläuse der Eingeborenen, kriecht in Erdlöcher, besteigt Vulkane und begegnet Seeungeheuern und Menschenfressern. Der andere, Mathematiker und Astronom Carl Friedrich Gauß. , der sein Leben nicht ohne Frauen verbringen kann und doch sogar in der Hochzeitsnacht aus dem Bett springt, um eine Formel zu notieren – er beweist auch im heimischen Göttingen, daß der Raum sich krümmt. Alt, berühmt und auch ein wenig sonderbar geworden, treffen sich die beiden 1828 in Berlin. Doch kaum steigt Gauß aus seiner Kutsche, sind sie schon tief verstrickt in die politischen Wirren Deutschlands nach dem Sturz Napoleons.
Mit hintergründigem Humor beschreibt Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies, ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg. «Die Vermessung der Welt» ist ein raffiniertes Spiel mit Fakten und Fiktionen, ein philosophischer Abenteuerroman von seltener Phantasie, Kraft und Brillanz.
Daniel Kehlmann DIE VERMESSUNG
Roman DER WELT
Rowohlt
1. Auflage September 2005
Copyright © 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Satz Adobe Garamond PostScript, InDesign bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
ISBN 3 498 03528 2
Vermessung der Welt
Reise
Im September 1828 verließ der größte Mathematiker des Landes zum erstenmal seit Jahren seine Heimatstadt, um am Deutschen Naturforscherkongreß in Berlin teilzunehmen. Selbstverständlich wollte er nicht dorthin. Monatelang hatte er sich geweigert, aber Alexander von Humboldt war hartnäckig geblieben, bis er in einem schwachen Moment und in der Hoffnung, der Tag käme nie, zugesagt hatte.
Nun also versteckte sich Professor Gauß im Bett. Als Minna ihn aufforderte aufzustehen, die Kutsche warte und der Weg sei weit, klammerte er sich ans Kissen und versuchte seine Frau zum Verschwinden zu bringen, indem er die Augen schloß. Als er sie wieder öffnete und Minna noch immer da war, nannte er sie lästig, beschränkt und das Unglück seiner späten Jahre. Da auch das nicht half, streifte er die Decke ab und setzte die Füße auf den Boden.
Grimmig und notdürftig gewaschen ging er die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer wartete sein Sohn Eugen mit gepackter Reisetasche. Als Gauß ihn sah, bekam er einen Wutanfall: Er zerbrach einen auf dem Fensterbrett stehenden Krug, stampfte mit dem Fuß und schlug um sich. Er beruhigte sich nicht einmal, als Eugen von der einen und Minna von der anderen Seite ihre Hände auf seine Schultern legten und beteuerten, man werde gut für ihn sorgen, er werde bald wieder daheim sein, es werde so schnell vorbeigehen wie ein böser Traum. Erst als seine uralte Mutter, aufgestört vom Lärm, aus ihrem Zimmer kam, ihn in die Wange kniff und fragte, wo denn ihr tapferer junge sei, faßte er sich. Ohne Herzlichkeit verabschiedete er sich von Minna; seiner Tochter und dem jüngsten Sohn strich er geistesabwesend über den Kopf. Dann ließ er sich in die Kutsche helfen.