Über den Roman
Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Jenny Erpenbeck erzählt auf ihre unnachahmliche Weise eine Geschichte vom Wegsehen und Hinsehen, von Tod und Krieg, vom ewigen Warten und von all dem, was unter der Oberfläche verborgen liegt.
Über die Autorin
Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr zuletzt erschienener Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichsam gefeiert und vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2013 mit dem Joseph-Breitbach-Preis und 2015 mit dem Independent Foreign Fiction Prize.
Jenny Erpenbeck
GEHEN, GING, GEGANGEN
Roman
Knaus
1. Auflage
Copyright © 2015 beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Umschlagzeichnung: Saleh Bacha
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-17405-7
Gott schuf das Volumen, der Teufel die Oberfläche.
Auch wenn es mich sehr stört, muss ich eine große Hemmung überwinden, um ein Insekt zu töten.
Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist. Ich glaube nicht, nein.
Vielleicht einfach ein Sichgewöhnen an Zusammenhänge. Und ein Versuch, sich einzufügen in Zusammenhänge, die existieren, Einverständnis.
In the end, we will remember not the words of our enemies, but the silence of our friends.
1
Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar. Es ist jedenfalls so, dass Richard von jetzt an nicht mehr pünktlich aufstehen muss, um morgens im Institut zu erscheinen.
Er hat jetzt einfach nur Zeit. Zeit, um zu reisen, sagt man. Zeit, um Bücher zu lesen. Proust. Dostojewski. Zeit, um Musik zu hören. Er weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich daran gewöhnt hat, Zeit zu haben. Sein Kopf jedenfalls arbeitet noch, so wie immer. Was fängt er jetzt mit dem Kopf an? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf? Erfolg hat er gehabt. Und nun? Das, was Erfolg genannt wird. Seine Bücher wurden gedruckt, zu Konferenzen wurde er eingeladen, seine Vorlesungen waren bis zuletzt gut besucht, Studenten haben seine Bücher gelesen, sich Stellen darin angestrichen und zur Prüfung auswendig gewusst. Wo sind die Studenten jetzt? Manche haben Assistenzstellen an Universitäten, zwei oder drei sind inzwischen selbst Professoren. Von anderen hat er lange nichts mehr gehört. Einer hält freundschaftlichen Kontakt zu ihm, ein paar melden sich von Zeit zu Zeit.